Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!
(Lukas 6,36)
Die Jahreslosung der „Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen“ hat es wieder einmal in sich! Jesus spricht von Gott wie von einem guten, fürsorglichen, liebevollen Vater! Das erstaunt, denn so hatte selten jemand zuvor von Gott gesprochen – nur wenige Stellen in der hebräischen Bibel, die wir das „Alte Testament“ nennen, bezeichnen Gott als einen Vater!
Nicht immer verbinden wir etwas Positives mit dem Wort „Vater“. Als ich in unseren Heimstätten einmal mehrere Wochen über das „Vater Unser“ sprach, stellte ich den Bewohner*innen die Frage: „Welche Gefühle und Gedanken steigen in Ihnen auf, wenn Sie an ihren Vater denken?“ Zwei sehr unterschiedliche Antworten machten deutlich, wie sehr mein eigenes Vaterbild meine Vorstellung von Gott prägen kann: „Wenn ich an meinen Vater denke, wird mir heute noch ganz anders!“ – sagte eine 90-jährige Dame. „Er war eigentlich nie da. Und wenn er da war, war er meist betrunken. Dann konnte er auch gewalttätig werden. Liebe und Annahme habe ich von meinem Vater nicht erlebt – ich verbinde keine positiven Gefühle mit dem Wort ‚Vater‘!“ „Wenn ich an meinen Vater denke, wird mir noch heute ganz warm ums Herz!“ – sagte eine andere Bewohnerin der Senioreneinrichtung. „Er war witzig und humorvoll. Wenn er nach Hause kam, lief ich immer zu ihm. Ich durfte auf seinem Schoß sitzen und fühlte mich geborgen und sicher. Mit dem Wort ‚Vater‘ verbinde ich nur gute Gefühle!“
Jesus erlebte Gott als einen guten, barmherzigen und fürsorglichen Vater! Schon, als er im Alter von 12 Jahren einmal von seinen besorgten Eltern, die ihn suchten, im Tempel in Jerusalem gefunden wurde, sagte er: „Warum habt ihr mich denn gesucht? Habt ihr nicht gewusst, dass ich im Haus meines Vaters sein muss?“ (Lk 2,49). Als später Schüler mit der Frage zu Jesus kommen: „Zeige uns doch, wie man richtig betet“, lehrt er sie das „Vater Unser“ (Lk 11,1-4). Bei einer anderen Gelegenheit macht Jesus den Menschen, die ihn umgeben, deutlich, dass Gott der Vater aller Menschen ist (Mt 23,9). Sogar in der Stunde seiner größten Schmerzen und des Todes wendet Jesus sich zu Gott als seinem Vater, dem er sich ganz anvertraut (Mt 26,39; Lk 23,34).
Für Jesus ist Gott wie ein guter Vater – vergleichbar vielleicht mit der Erfahrung der älteren Bewohnerin in der Senioreneinrichtung, deren ganzes Leben geprägt war von der positiven Erinnerung an ihren irdischen Vater. Sein Gottesbild fand Jesus tief verankert in den Heiligen Schriften, der Thora und den Psalmen: „Der Herr ist voll Liebe und Erbarmen, voll Geduld und unendlicher Güte“ (Ex 34,6; Ps 103,8 u.a.).
Das „Seid barmherzig“ aus unserer Jahreslosung, also das Mitgefühl, das wir anderen Menschen gegenüber in Wort und Tat zum Ausdruck bringen sollen, ist im Sinne Jesu nicht so sehr ein Befehl. An einem Befehl zur Barmherzigkeit würden die meisten von uns scheitern. Barmherzigkeit ist eher eine Reaktion. Eine Reaktion auf den Gott, dem Jesus vertraut hat, den er uns vorstellt, den er mit seinem ganzen Leben und Sterben repräsentiert. Barmherzig anderen gegenüber zu sein ist eine Reaktion auf selbst erkannte und erfahrene Gottesliebe. An geübter Barmherzigkeit zeigt sich die tiefe Erfahrung von uns Menschen, von Gott geliebt und angenommen zu sein!
Ich wünsche Ihnen und Euch ein gutes, gesegnetes und behütetes Jahr 2021!
Ulrich Schulte (Pastor)
Bildmotiv mit freundlicher Genehmigung: Stefanie Bahlinger