Eine Vision wird Realität

25 Jahre „Haus Noah“ – ein Leuchtturmprojekt in der Suchtkrankenhilfe für Bremen

Der Tag ist noch jung. Doch die Sonne strahlt prächtig vom fast wolkenlosen Himmel, die blauen Balkone des mehrgeschossigen Hauses Ellerbuschort 15 glänzen im hellen Tageslicht. Ein selten schöner Morgen in diesem feuchten Sommer 2023. Einige Bewohner des Hauses genießen bereits die wärmende Sonne. Freundlich nicken sie den Passanten zu.

„Rentner, die haben es gut“, mag so mancher beim Vorbeigehen denken. Tatsächlich wirkt dieses Gebäude auf den ersten Blick wie ein ganz normales Wohnhaus – mit Menschen, die sich an diesem Morgen womöglich vom stressigen Alltag erholen. Menschen, die womöglich ihren Ruhestand auskosten, unabhängig von Zeit und Raum. 

Doch das Idyll täuscht. Die Frauen und Männer, die auf den Balkonen  von „Haus Noah“ – so prangt es auf großen Lettern über der Eingangstür – die Sonne genießen, sind zuvor durch die Hölle gegangen. Ihr Leben war aus den Fugen, in eine Schieflage geraten. Der Alkohol hatte die Macht über ihr Leben gewonnen, beherrschte ihren Alltag. Jetzt kämpfen sie in „Haus Noah“ tagtäglich um ihre letzte Chance, zurück in ein trockenes und möglichst selbstbestimmtes Leben zu finden.

Im März 1998 eröffnete das Sozialwerk der Freien Christengemeinde „Haus Noah“ als Fördereinrichtung für Menschen mit schwerer Alkoholerkrankung. Die meisten leiden an dem sogenannten Korsakow-Syndrom. Es ist heute kaum vorstellbar, dass „Haus Noah“ damals die erste Einrichtung dieser Art in Bremen war. Doch bis in die 90iger-Jahre galten Korsakow-Patienten als „nicht mehr therapierbar und nur noch dauernd zu verwahren“. Ihren Lebensabend verbrachten sie in der Regel in psychiatrischen Krankenhäusern oder verschwanden irgendwo in Altenheimen. „Satt, sauber und trocken“, lautete damals die Devise.

Heinz Bonkowski, Mitbegründer und damaliger Leiter des Sozialwerks, erinnert sich noch gut an die Zeit. „Wir hatten 1982 die Heimstätte am Grambker See eröffnet und dort auch suchtkranke Menschen aufgenommen. „Dass wir das gut machen, hatte sich bis zur Psychiatrie in Bremen-Ost herum gesprochen. Außerdem wollte dort niemand mehr Menschen aus Bremen in Kleinstgruppen nach Niedersachsen abschieben.“

Heinz Bonkowski hatte 1979 zusammen mit der Freien Christengemeinde das Sozialwerk gegründet. Seine Vision: hilfsbedürftige Menschen annehmen, wie sie sind, und ihnen einen wertvollen Platz in der Gesellschaft geben. Die Eröffnung von „Haus Noah“ war da nur logisch. In dem ehemaligen Hotel Bollmann, im Ellerbuschort 15, fanden Heinz Bonkowski und sein kongenialer Partner Armin Hein („Ich hatte die Visionen und Armin war das Finanzgenie“) den idealen Ort. „In dem Haus brachten wir zuvor schon Spätaussiedler und jüdische Zuwanderer aus Russland unter.“ Nach einer umfassenden Renovierung wurde „Haus Noah“ im März 1998 eröffnet. Vier Wochen später waren die 24 Appartements belegt.

Angesichts der Schicksale dieser Menschen von einer Erfolgsgeschichte zu sprechen klingt für mache Ohren sicherlich makaber – und doch ist das „Haus Noah“ eine Erfolgsstory. Keine weiß dies besser als die Leiterin der Einrichtung, Beate Rettig. Die 63-jährige Diplom-Sozialpädagogin gehört seit 2002 zum neunköpfigen Noah-Team und löste 2004 Anneliese Lindemann als Leiterin ab. „Menschen, die durch die die „Rund-um-die-Uhr-Arbeit“ zurückfinden in den eigenverantwortlichen Alltag, sind Belohnung für die aufzehrende aufopferungsvolle Tätigkeit.“  Auch nach mehr als zwei Dekaden ist Beate Rettig von ihrer Arbeit fasziniert.  „Ich habe in all den Jahren so viele besondere Menschen kennengelernt – Menschen, die mich fasziniert haben. Wenn sich diese Menschen öffnen, dann sind das ganz große Schätze.“

Doch bis sich diese Menschen öffnen, ist es oft ein sehr, sehr langer Weg. Und nicht immer endet dieser Weg zurück in der Normalität. „Die Menschen, die ins Haus Noah einziehen, sind die Stärksten“, sagt Beate Rettig. Diese Menschen kämpfen, haben sich noch nicht aufgegeben, suchen Hilfe. Wer ins Haus Noah kommt, hat alles verloren – den Arbeitsplatz, die Wohnung, meistens den Kontakt zu Partnern, zu den Kindern. Letzte Ausfahrt Grambke!

Deshalb ärgert Beate Rettig eines ganz besonders: die Stigmatisierung der alkoholsüchtigen Menschen. „Die sind weder doof noch dumm, sie sind krank – und wir müssen ihnen helfen.“

 „Satt, sauber, trocken“ ist ein Betreuungsziel aus längst vergangenen Tagen. Heute werden Korsakow-Patienten individuell oder in Kleingruppen begleitet und gefördert.  Wesentliche Bestandteile der Arbeit sind von Anfang an ein alkoholfreies Haus, eine geregelte Tages- und Wochenstruktur mit Arbeitszeiten, Ruhepausen und gemeinsamen Freizeitaktivitäten. Dazu gehören auch lebenspraktische Fähigkeiten wie etwa Einkäufe oder Busfahrten. „Durch den jahrzehntelangen Alkoholmissbrauch sind bestimmte Zellen und Bereiche des Gehirns zerstört worden. Darunter leidet insbesondere das Kurzzeitgedächtnis“, erzählt Beate Rettig. Worte, Belehrungen und Erklärungen nutzen wenig, weil sie schnell vergessen werden. Hauptsächlich  durch eigenes Tun und Handeln lernen die Bewohner – die laut Bundesteilhabegesetz eigentlich politisch korrekt Nutzer: innen genannt werden müssen. Unterstützt werden sie dabei durch tägliche therapeutische Anleitung und ergo-therapeutische Übungen.  Die meisten Bewohner leider unter einer Co-Morbidität. Sie sind nicht nur alkoholkrank, sondern leiden beispielsweise auch unter Depressionen, Angst- und Panikstörungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen; dazu kommen körperliche Erkrankungen. 

„Anschaffen, konsumieren, ausschlafen“ – so prägnant beschreibt Beate Rettig den Alltag eines schwerstalkoholkranken Menschen. Die Wohnung aufräumen, Essen kochen, gar Kontakte pflegen – nichts von alledem ist diesen Frauen und Männern noch möglich. Deshalb geht die Einrichtungsleiterin in den Vorstellungsgesprächen auch nicht auf die Verweildauer ein.  Wenn es gut laufe, können einige nach drei bis vier Jahren in „Haus Noah“ in eine eigene Wohnung zurückkehren. Wer gezielt danach fragt, der bekommt eine Antwort. Eine Antwort, die die meisten Betroffenen zunächst einmal erschrickt. „So lange …“

Doch wenn die Frauen und Männer wieder in den verschiedenen Werkstätten des Sozialwerks arbeiten, sie ihre tief vergrabenen Talente freilegen und sie ihr Selbstwertgefühl wiedergefunden haben und bereit sind, Kontakte zu ihren Angehörigen aufzunehmen, sind sie in „Haus Noah“ endgültig angekommen.

Nicht ohne Grund hatten die Gründerväter dem Domizil im Ellerbuschort den Namen Noah gegeben. „Viele wissen nur, dass Noah etwas Gutes getan hat, aber Noah war auch ein Säufer“, sagt Heinz Bonkowski. Noah baute nicht nur die Arche, sondern legte neben Feldern auch einen Weinberg an – und wie es im Buch Mose beschrieben ist, sprach der dem Rebensaft auch ordentlich zu. Doch die Bibel berichtet auch vom würdevollen Umgang der Söhne Sem, Ham und Jafet mit dem betrunkenen Vater. Die Brüder halfen ihrem Vater, wie „Haus Noah“ alkoholkranken Menschen hilft – seit einem Vierteljahrhundert.

Michael Thurm

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