Abgefahren –
ein Dienstrad-Tagebuch
In der nächsten Zeit kannst du, werte Leserin und werter Leser, durch die Augen der „Radeldiestadtfee“ Teile der Welt sehen und mal anders verstehen. Du wirst sie näher, manchmal auch sehr nah in dem kennenlernen, was sie auf ihren Touren für berichtenswert hält. Es sagt viel über ihre Persönlichkeit aus. Sie ist sehr warmherzig, wortgewandt, ehrlich, voller überraschender Bilder und überaus ideenreich. Ihre Liebe zu Menschen und ihre Begeisterung für unserem Gott bedingen und beflügeln sich gegenseitig. Sie hat ein besonderes Auge und ein genaues Ohr für das, was sich in ihrem Gegenüber und bei ihr selbst im Inneren abspielt.
„Die mit dem Wind fährt“
„Die mit dem Wind fährt“ ist mit wachen Sinnen unterwegs. Sie sieht viel und manchmal ziemlich tief, hinter die Fassaden und in Gesamtzusammenhänge. Und sie macht sich so ihre Gedanken. Diese verpackt sie in klare und schöne Worte und lädt dich ein, sie auf ihren täglichen Wegen zur Arbeit und zurück zu begleiten. Ihre Warmherzigkeit und Anteilnahme werden dich anrühren, ihre Klarheit und Offenheit vielleicht manchmal schockieren, auf jeden Fall aber faszinieren.
„Radeldiestadtfee“
Wir beide haben uns gefunden – als Arbeitskolleginnen, als Dienstrad-Nutzerinnen, als Gesinnungsgenossinnen. Komm, begleite uns, lass dich anstecken… und wer weiß? Vielleicht reihst du dich mit deinen Erlebnissen irgendwann in unsere alltäglichen und doch so außergewöhnlichen Arbeitswegerlebnisse ein? Wir wünschen dir wertvolle Lesemomente.
Danke für das Foto an Yaopey Yong von Unsplash
Gebrüll
Mein Weg führt mich an der Justizvollzugsanstalt vorbei. Im Grünstreifen hat die Steinmetzwerkstatt des Knastes dieses und jenes Kunstwerk aufgestellt. Das Paar hat es mir angetan. Eine Frau und ein Mann stehen sich, in Stein schlicht herausgearbeitet, gegenüber. Die Frau hat ihre Hände an ihre Ohren gedrückt und schaut erschrocken, ängstlich zu dem Mann herüber. Er steht mit verschränkten Armen vor ihr, mit weit geöffnetem Mund – ich höre ihn brüllen. Was für ein Dilemma, in denen sich die beiden dort gegenseitig gefangen halten und wie realistisch! Ich fahre schnell weiter, das Gebrüll und die Angst sind unaushaltbar.
„Die mit dem Wind fährt“
Foto: „Die mit dem Wind fährt“
Keine Zeit
An der Brücke hoch oben hat ein Sprayer (wie ist er da hingekommen?) eine Botschaft verewigt: Arm ist, wer keine Zeit hat. Ich bin genauso begeistert wie betroffen von diesem tollen Spruch. Wie wahr! Ich radle weiter, Richtung Weser, über die Brücke, vorbei am Verwaltungsgebäude von InBev. Das Gebäude ist mit einem Gerüst versehen. Aufgebaut hat das die Firma Niethiet Gerüstbau GmbH. Ich bin schon fast an der nächsten Ampel, als mir die Bedeutung dieses plattdeutschen Namens aufgeht: Die arme Firma!
„Radeldiestadtfee“
Foto: „Radeldiestadtfee“
Rosa Wolken
Ich kehre von einem anstrengenden Arbeitstag in der Dämmerung nach Hause zurück und stutze. Ich sehe eine rosa Wolke. Das ist nicht der Sonnenuntergang, der findet an anderer Seite des Himmels statt. Über dem Weserstadion hängt sie- sie wirkt unwirklich, zu schön, fast mystisch. Der Rasen im Weserstadion sieht kein Licht, zumindest nicht genug, um gesund wachsen zu können. So gibt es eine Bestrahlungsanlage, die vor allem im Winterhalbjahr über viele Stunden über den Rasen gefahren wird, um Tageslicht zu simulieren. Die Wolken über dem Stadion haben dieses Licht so leicht rot reflektiert. Zauberhaft.
„Die mit dem Wind fährt“
Danke für das Foto an Leandra Niederhauser von Unsplash
Gegenwind
Gegenwind. Typisch, denke ich. Immer hab ich Gegenwind. Seit ich ein E-Bike fahre und ein Motor mich beim Radeln unterstützt, stört es mich nicht mehr so sehr. An diesem Morgen jedoch wehen mir ein kalter Wind und kleine spitze Regentropfen ins Gesicht, so dass es schmerzt. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ich auf dem Rückweg heute Nachmittag Rückenwind haben werde. Von wegen, schreit die Pessimistin in mir. Der Wind wird sich sicher drehen, so dass ich auch auf dem Heimweg wieder Gegenwind haben werde. Auch das ist typisch für Bremen, denke ich. Auf dem Nachhauseweg habe ich gar keinen Wind. Es radelt sich leicht. Ich denke nicht an den Wind. Erst, als ich fast zu Hause bin, sehe ich eine umgestürzte Mülltonne und bemerke, dass sehr wohl ein kräftiger Wind weht – von hinten. Wie seltsam, denke ich. Gegenwind nehme ich wahr, Rückenwind nicht.
„Radeldiestadtfee“
Danke für das Foto an Luca Campioni auf Unsplash
Tot
Wie eine riesige Hand mit langen Fingern, die sich nach oben gen Himmel strecken sehen sie aus. An ihnen ist kein Zweig zu sehen – es sind Bäume, die derartig zurückgeschnitten wurden, dass sie wie tot aussehen. Kein Hinweis auf Wachstum, nur kahler Stamm mit fünf/sechs Hauptästen, die oben glatt abgeschnitten sind, bevor sie sich verjüngen konnten. Sie sehen skurril aus, fügen sich nicht in das lebendige Bild der Büsche und Bäume, die um sie herum am Weserufer wachsen. Mein Verstand und meine Erfahrung wissen, dass sie wieder zu ihrer Zeit ausschlagen werden, meine Augen und mein Empfinden wollen sich sofort abwenden, weil sie so tot wirken. Wie verhält es sich mit dem, was ich für tot erkläre? Das, was ich aufgebe, weil es augenscheinlich keine Lebenszeichen von sich gibt? Ich gucke da nicht mehr hin, ich erwarte nichts mehr. Manchmal halte ich den Schmerz nicht aus über das vermeintlich Gestorbene. Wir sind vor Ostern, in der Passionszeit. Der Stein vor Jesu Grab ist weggerollt worden und wie lebendig zeigte sich der Totgeglaubte. Ich werde diese drei Bäume im Blick behalten und auf ihre Botschaft an mich lauschen.
„Die mit dem Wind fährt“
Foto: „Die mit dem Wind fährt“
Kalt?
Es ist kalt heute Morgen, kurz über dem Gefrierpunkt. Doch ich bin warm angezogen – mit Regenhose über meiner Jeans, dickem Strickpulli unter meiner Winterjacke, dicken Socken in meinen Stiefeletten und gefütterten Fäustlingen an meinen Händen. So radle ich am Werdersee entlang, genieße die diesig-kalt-graue Morgenstimmung, schaue aufs Wasser und sehe am Ufer… einen nackten Mann. Er steht dort splitternackt und trocknet sich die Haare ab. Hat ein Morgenbad bei einem Grad über Null im Werdersee genommen. So unterschiedlich kann Wahrnehmung sein.
„Radeldiestadtfee“
Danke für das Foto an phillip belena auf Unsplash
Still
Die Weser sieht jeden Morgen anders aus. Dieser schwerfällig dahinfließende Strom ist manchmal atemberaubend schön und klar. An einem anderen Tag kann ich kaum bis zur nächsten Brücke schauen, so neblig ist es. Manchmal ist der Himmel grau, dann wieder in einer großen Palette eingefärbt. Ich radle an Menschen vorbei, die angehalten haben und mit ihrem Handy ein Foto machen. Der Fluss fließt manchmal in die eine, manchmal in die andere Richtung. Ist manchmal hoch und breit, an anderen Tagen, tief und schmal. Und dann gibt es diesen ganz seltenen Moment, wenn der Fluss still daliegt. Es ist dieser seltene Augenblick, wenn Ebbe und Flut sich treffen, wenn nichts von beidem ist. Stille.
„Die mit dem Wind fährt“
Danke für das Foto an Adrien Olichon auf Unsplash
Schnapszahl
Auf diesen Moment habe ich gewartet. Ich halte auf meinem Weg zur Arbeit an und hole mein Handy für einen Schnapppschuss hervor, obwohl es nieselt. 4444,4 km zeigt der Tacho meines E-Bikes an. Das muss ich festhalten: eine Schnapszahl.
Woher kommt eigentlich der Begriff „Schnapszahl“, frage ich mich. Zu Hause google ich die Bedeutung und finde bei Wikipedia, dass dieser Begriff beim Spielen verwendet wird: Wenn der Punktestand ein Ergebnis mit mehreren gleichlautenden Ziffern erreicht hat, wird ein Schnaps fällig. Eine andere Deutung besagt, dass übermäßiger Alkoholkonsum ein Doppel- oder Mehrfachbild erzeugen kann.
Also, ich freue mich nur über so viele Kilometer an der frischen Luft, in Bewegung, mit vielen Eindrücken und Zeit zum Nachdenken. Darauf stoße ich mit meiner Radelkollegin „Die mit dem Wind fährt“ mit einem Kaffee an! Prost!
„Radeldiestadtfee“
Foto: „Radeldiestadtfee“
Kleiner Fratz
Ein kleiner Fratz steht oben an der Rampe, die an der Weser nahe dem GOP Theater auf die Promenade hinunterführt. Er macht sich bereit, mit seinem Roller die Abfahrt zu wagen. Dann kachelt er los. Voll konzentriert, den Lenker bewundernswert ruhig haltend, die kleinen Räder voll unter Kontrolle. Ich folge ihm mit gebührendem Abstand und gedrosselter Geschwindigkeit und bemerke, wie ich seinen Mut und seine Selbstbeherrschung, ja auch seinen Willen und das sich auf diese selbstgewählte Aufgabe einlassen spüre. Ganz erfüllt von diesem Einen. Unten angekommen passiert er in aufrechter Haltung seine ihm folgenden Elternaugen. Mutig, mutig mein junger Menschenbruder.
„Die mit dem Wind fährt“
Danke für das Foto an 童 彤 von Unsplash
Akku leer
Ich bin gerade aus der Tiefgarage raus und radele los, da stelle ich erschrocken fest, dass der Akku meines E-Bikes nur noch drei von fünf Balkensekmenten auf der Anzeige aufweist. Fünf hat er, wenn der Akku voll ist. Ich zögere kurz. Umkehren? Dann trete ich in die Pedale. „Wird schon reichen“, denke ich. Doch kaum bin ich am Weserufer angekommen, verringert sich der Akkustand auf zwei Balkensekmente. „Das wird knapp“, schießt es mir durch den Kopf. Denn immerhin habe ich heute noch ungefähr 32 Kilometer zurückzulegen. Ich reduziere die Unterstützung durch den Motor und radele im Eco-Modus. Das ist nicht viel und ich komme ins Schwitzen. Das Rad ist schwer und ich habe zwei voll bepackte Fahrradtaschen dabei. Das ist normalerweise kein Problem. Mein Rad hat ja einen Motor. Aber nun muss ich haushalten mit den verbleibenden Kräften. Ich schalte einen Gang höher: Tour. Schon besser. So lässt es sich auch auf längere Strecke gut fahren. Zeitweise habe ich Rückenwind oder es geht abwärts – da ist das kein Problem. Aber wenn mir der Wind entgegenpfeift oder ich die Brücke hoch muss, dann muss doch ein bisschen mehr Elektro-Schub her. Und so gehe ich im Laufe meines Hin- und Rückweges sehr bewusst mit der vorhandenen Energie um, nutze nur so viel, wie ich brauche. Immer wieder schaue ich auf meinem Arbeitsweg auf den Akkustand. Mit meinem Display kann ich auch prüfen, wie viele Kilometer ich noch fahren kann. Je weniger Unterstützung ich aktiviere, desto weiter komme ich. Mit voller Power komme ich gerade mal zur Arbeit, aber nicht mehr heim.
Ich komme ins Nachdenken. Mein heutiger Arbeitsweg ist so, wie ich mein Leben derzeit empfinde. Der Akku ist bedenklich leer. Ich komme mit meiner Kraft gerade noch so durch den Tag, aber an zusätzlichen Belastungen sollte nichts mehr hinzukommen. „Ich brauche Urlaub“, beschwere ich mich bei mir selbst. Doch es ist keiner in Sicht. Und die Anforderungen aus meiner eigenen kleinen Familie, meinem Beruf und durch meine alt werdenden Eltern sind zeitweise so groß, dass ich das Gefühl habe, nur noch zu funktionieren. Manchmal kommt ein bisschen Rückenwind in Form einer netten Begegnung, einer unverhofften Kaffeepause oder einer guten Nachricht daher und verlängert die Laufleistung meines inneren Akkus. Und so reicht die Kraft doch weiter als gedacht. Und doch merke ich: Ich war zu lange zu leichtsinnig im Umgang mit meinen Kräften, hab nicht gut auf mich geachtet.
Als ich am Nachmittag zu Hause ankomme, hat die Energie gut gereicht. Ich könnte sogar noch ein paar Kilometer fahren. „Gut gehaushaltet“, denke ich. Und: „Jetzt aber schnell wieder aufladen.“
„Radeldiestadtfee“
Foto: „Radeldiewaldfee“
ein Dienstrad-Tagebuch
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